Als ich ein Kind war wunderte es mich warum ich mich nicht
an die allerersten Jahre meines Lebens erinnern kann. Ich fragte mich, ob ich
wenn ich älter bin noch mehr Erinnerungen verlieren werde. Ich versuchte mich
möglichst weit zurück zu erinnern. Da kamen verschwommene Bilder wie zum
Beispiel ein Granatapfel in einem weißen Teller; meine Tante die mir im Park
ein Sackerl voll mit Süßigkeiten brachte; ich sah wie ich an Mamas Schoß saß
und meine Suppe nicht essen wollte. Aber die erste klare Erinnerung war die,
die mein Leben veränderte. Ab diesem Tag war klar, dass mein Leben nicht wie
geplant laufen würde.
Ich wachte auf und sah durch das Gitter meines Kinderbettes
meine Eltern am Balkon stehen. Ich kletterte hinaus und ging zu ihnen. Das
erste was mir aufgefallen war, war dass die linke Ecke des Hauses von gegenüber
brannte. Dann sah ich nach unten, wo eine riesige Menschenmenge Richtung Kellereingang
des Nebenhauses marschierte und eine kleinere Menge zum Keller unseres Hauses. Ich
fragte was los war. Mama sagte „Es ist
Krieg. Wir müssen in den Keller.“ In diesem Moment dachte ich nur eines und
zwar, dass der Keller des anderen Hauses sicher besser war, weil ja sonst nicht
der größere Teil der Menschen dorthin wollen würde. Aber wir gingen in unseren
Keller.
Es war feucht und dunkel. Ich hörte, dass draußen die Bomben
fielen. Bei jeder Explosion musste ich zusammenzucken. Mir wurde gesagt,
ich soll keine Angst haben. Wir sind hier sicher. Ich hatte ehrlich
gesagt auch keine Angst. In diesem Moment war mir noch nicht wirklich klar, was
vor sich geht. Das einzige was mich beschäftigte war, warum ich noch keine
Ratten gesehen habe, weil alle anderen meinten es gäbe hier welche. Mein Bruder
nannte mich immer Maus und ich liebte Mäuse und dachte Ratten wären genauso
niedlich. Apropos Bruder. Meine 4 Brüder waren nicht bei uns. Sie sind am Abend
vor dem Kriegsausbruch zu meinem Onkel gefahren. Jetzt wussten wir nicht, ob
sie am Leben sind. Und sie wussten nicht, ob wir noch leben. Der Krieg kam so
plötzlich …
Es wurde Tag und Nacht bombardiert. Als Menschen, die
hinausgingen verwundet, von Blut überströmt und mit fehlenden Körpergliedern
zurückkamen, wurde mir bewusst, dass wir hier nicht raus dürfen und
wahrscheinlich für immer da bleiben müssen. Ab da an hatte ich Angst. Ich kann
mich an eine Frau erinnern, die nach Kaugummi roch und mich mit ihren
Geschichten unterhielt. Ich weiß nicht was sie mir erzählte, ich weiß nur, dass
ihre Stimme und der Kaugummigeruch etwas Beruhigendes hatten.
Am sechsten Tag war es soweit. Papa, Mama, meine zwei
Schwestern und ich verließen den sicheren Keller. Raus ins Feuer. Direkt in die
Hölle. Mit einer weißen Fahne bewaffnet. Mit uns kamen noch einige andere
Menschen, aber alle anderen waren fest davon überzeugt es wäre Selbstmord jetzt
schon rauszugehen. Fast den ganzen Weg
hindurch hielt meine Mama mir die Augen mit der einen Hand zu und mit der
anderen Hand die Augen meiner Schwester. Immer wieder versuchte ich ihre Hand
wegzutun, weil ich es nicht ertragen konnte nicht zu sehen wo ich hintrete,
doch jedes Mal als ich es schaffte durch 2 Finger hindurch zu blicken, bereute
ich es. Leichen. Überall. Männer, Frauen, Kinder. Hunde, Katzen, Vögel. Alles
war tot. Es war eine andere Welt. Das konnte alles einfach nicht real sein. Es muss ein Alptraum sein. Doch ich
wachte nicht auf.
Hin und wieder blieben wir stehen und machten Fotos. Als ich
später Mama fragte, wozu wir eigentlich mitten im Krieg uns fotografiert haben,
sagte sie „Falls wir auf dem Weg getötet
würden und unsere Leichen nicht identifizierbar wären, würde man uns auf den
Fotos erkennen.“
Wir kamen an. Unsere Familie war vereint. Wir waren nicht in
Sicherheit, aber wir waren zusammen und wir waren am Leben. Und nur das zählte.
Jetzt bin ich erwachsen und habe Vieles aus meiner
Vergangenheit vergessen. Ich habe mein Gedächtnis in all diesen Jahren so
trainiert, dass ich nur mehr gute Erinnerungen für immer behalte und die
schlechten werden so weit versteckt, dass ich sie nur durch bewusstes
Zurückdenken wieder heraufbeschwören kann. Und das tue ich nicht oft, weil ich sonst
daran kaputt gehen würde.
A.
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